Blog Post

Ofer Waldman im Videogespräch mit Givat Haviva Deutschland e.V.

Ruth Ratter • Juni 13, 2021

Austausch über die aktuelle politische Situation in Israel am 6. Juni 2021

Dr. Ofer Waldman lebt als freier Autor in Israel. 1999 als Mitglied des West-Eastern Divan Orchesters nach Berlin gekommen, reüssierte er zunächst als internationaler Musiker in einer Reihe von renommierten Orchestern in Deutschland und Israel.

Der promovierte Germanist und Historiker veröffentlicht vielfältige Beiträge aus seiner Forschung zur deutschen Gegenwartsgeschichte und ist in Printmedien und im Hörfunk präsent. Er hält Vorträge zu gesellschaftlichen und historischen Fragen, bezieht Stellung zu zivilgesellschaftlichen Problemen im Kontext mit Israel und Europa. Er engagiert sich in NGOs, war ehrenamtlicher Leiter des New Israel Fund Deutschland und ist aktiv in länderübergreifenden Kooperationsprojekten. 


Unsere Videoschaltung mit Ofer am vergangenen Sonntag brachte uns einen tiefen Einblick in die gegenwärtige Verfassung des Staates Israel und seiner Bevölkerung.


Ofers Rückblick auf die Ereignisse der letzten Wochen erinnerte noch einmal an die Verletzbarkeit des Staates, wie leicht die Stimmung anzuheizen ist und die Spirale der Gewalt sich hochschrauben lässt. Der Fokus richtete sich sodann verstärkt auf die sich abzeichnende Koalition in Israel, auf die sich so viele Hoffnungen stützen, die aber noch nicht vereidigt ist.


Die überraschende Allianz der Regierungswilligen kann nach Ofers Einschätzung als „revolutionär“ bezeichnet werden, überwindet sie doch alte ideologische und ethnische Grenzen mit der Beteiligung rechter und linker, nationalreligiöser und säkularer sowie jüdischer und arabischer Parteien. 


Dies spiegelt auch eine neue – von den Ausschreitungen jedoch jäh unterbrochene – Entwicklung wider: Zwischen arabischen und den jüdischen Israelis beginnt sich eine neue gegenseitige Wahrnehmung zu etablieren, die vor allem durch die landesweit sichtbare, kollegiale und effektive Zusammenarbeit der jüdisch-arabischen Teams im Gesundheitssystem während der Corona-Krise befeuert wurde. Die Option einer friedlichen Koexistenz scheint greifbar. Wir, als Freundeskreis GHD, sind natürlich stolz darauf, dass Givat Haviva mit seinem Shared Society Konzept sich als Vorreiter dieses Gesellschaftsmodells schon lange bewährt und jetzt voller Zuversicht seine Aktivitäten ausweiten kann.


Allerdings werden durch diese kommende Regierung, sofern sie erst einmal vereidigt ist, vor allem zivile und nicht nationalstaatliche Fragen bearbeitet; nationalstaatliche werden auf absehbare Zeit unangetastet bleiben. 


Auf der Habenseite der Koalition sind nach Ofer Auffassung


die Stärkung des Frauenanteils in führenden Positionen 

eine Verbesserung der Stellung von Angehörigen bislang stark marginalisierter Gruppen ( z.B. aus der LSBT*IQ Community) 

die Anerkennung und damit Wasser, Strom, Infrastruktur und Bildung von mind. drei Beduinendörfern im Süden

die Verringerung des Einflusses von Ex-Militärs in der Regierung. 


Der Koalitionsvertrag wird erst kurz vor der Vereidigung offengelegt werden, sodass die weiteren Vereinbarungen erst dann zu bewerten sind. Nagelproben wird es gewiss reichlich geben und sicher nicht erst bei der Neuwahl der Hälfte der Richter am Obersten Gericht Israels. Gerade dies kann durchaus zur Bewährungsprobe für diese Koalition werden, denn vor allem die rechten Parteien sind seit Jahren darauf fixiert, den Einfluss des Obersten Gerichtshofs stark zu beschränken und ihnen genehme Richter dort einzusetzen. Mit der Einsetzung von Ayelet Shaked, einer Parteigängerin in Naftali Bennets Yamina-Partei und einer großen Kritikerin des Obersten Gerichts, haben sich in dessen Besetzungskomitee die rechtsgerichteten Parteien dort erheblichen Einfluss gesichert.


Dennoch besteht Hoffnung z.B. auf einen grundlegenden Wechsel und dies sowohl bei den arabischen Israelis als auch inzwischen bei den konservativen und orthodoxen Juden, die keineswegs einen stabilen Block bilden. Die arabischen Israelis haben insbesondere während der Pandemie (ÄrztInnen, PharmazeutInnen und Pflegekräfte) gezeigt, wie wichtig ihre Rolle im Staat Israel ist, und sie erkennen mittlerweile ihre Möglichkeiten der Mitgestaltung im politischen System jenseits der nationalen Frage. Deshalb weichen sie von der bisherigen Haltung einer Fundamentalopposition ab und stehen im Sinne ihrer Wähler für eine Regierung erstmalig zur Verfügung.


Mut für eine Entschärfung der innerisraelischen Konflikte machen Transparente von NGOs mit Aufschriften wie „Wir weigern uns, Feinde zu sein“. Aber auch große Firmen legen ein neues Selbstverständnis an den Tag und stärken ein „WIR“-Gefühl, das die palästinensischen Israelis einbezieht, so etwa eine Versicherung, die mit dem Slogan wirbt „Die beste Lebensversicherung ist die Koexistenz“.


Zudem zeigen Umfragen, dass eine israelweite Mehrheit Sympathien für eine friedliche Lösung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern hegt. Dies betrifft auch die Zwei-Staaten-Lösung. Hier sei jedoch vor allzu viel Euphorie gewarnt: Durch die ideologisch sehr unterschiedliche Zusammensetzung dieser Koalition („Tauben“-Parteien wie Meretz gehören ihr genauso an wie die rechtsgerichtete Partei Yamina des nationalreligiösen Siedlers und wohl baldigen Premierministers Naftali Bennet) werden große Würfe im Bereich des israelisch-palästinensischen Konflikts nicht zu erwarten sein. Eine innenpolitische Politikwende, hin zu mehr Gemeinsamkeit und Ausgleich, kann jedoch durchaus auf der Agenda der Regierung stehen.


Binyamin Nethanyahus Schicksal in der Opposition ist ungewiss. Nach wie vor steht er in Jerusalem wegen mehrerer Korruptionsfälle vor Gericht, ist aber gleichzeitig auch Oppositionsführer. Hier wird er für die Regierung gewiss eine Hypothek darstellen, beispielsweise in Fragen der Siedlungspolitik, kann er die Regierung noch herausfordern. Andererseits wächst auch in seiner Partei eine neue Führungsgeneration heran, was einen sukzessiven Wandel, genauso wie innerparteiliche Konflikte, befördern könnte. Er ist also eine Hypothek auch für seine eigene Partei.


Gern führen wir das Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt fort! Danke an Ofer für seinen kompetenten Vortrag, der für alle Beteiligten ein Gewinn war!

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