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In Limbo Land

Nina Stierle • Nov. 18, 2017

Christopher Ratter

BARTA‘A – Ein halbes Jahrhundert ist vergangen. Ein halbes Jahrhundert seit dem Sechs-Tage-Krieg, der sich als nationaler Triumph ins israelische Gedächtnis brannte und den die gesamte arabische Welt nur als „Al-Nakba“ – die Katastrophe – kennt. Die geopolitischen und sozialen Folgen dieses Krieges spürt man im gesamten Nahen Osten bis zum heutigen Tag. Ganz besonders aber in Barta‘a, einem Ort im Nirgendwo, der wie kein anderer vom Stillstand eines Konflikts erzählt.

Lydia Aisenberg verschwindet im Staub. Gerade sprach die klein gewachsene Frau mit dem markanten walisischen Akzent noch ruhig und deutlich. Jetzt brüllt sie gegen den Sand, gegen den böigen Wind und gegen den tosenden Lärm der Krähne und Bagger. Wir stehen auf einem kleinen Plateau. Vor uns eine spärlich bewachsene Landschaft aus sanften Hügeln. Hinter uns liegt gelbe Wüste aus Bauschutt unter blauem Himmel, von dem die Mittagssonne herunterbrennt. „All das, was ihr hier seht, war Wald, der gerodet wurde“, erklärt Aisenberg und deutet im Halbkreis. Vor ein paar Jahren lebten hier gerade einmal 350 Familien. Jetzt erwächst dem Boden eine Megacity. Harish ist ein millionenschweres Stadtprojekt: „Schulen, Supermärkte, Synagogen, schöne kleine Parks, ein High-Tech-Hub, alles was ihr euch vorstellen könnt.“ Bis zu 100.000 Menschen sollen hier einmal leben. Wohnraum ist knappes Gut im gerade ständig wachsenden Ballungsraum um Tel Aviv, der nur eine gute Autostunde von hier entfernt ist. Die Arbeiter, die die neue Stadt erbauen, erklärt uns Aisenberg, sind jedoch keine Israelis. Sie kommen aus der Westbank. Morgen für Morgen durchqueren sie die schwer bewachten Checkpoints mit speziell ausgestellten Papieren und reisen nach getaner Arbeit zurück in ihre Dörfer jenseits des NATO-Drahtes.


In ihrer Hand hält Aisenberg eine Karte. Sie flackert im Wind und erinnert an eine Papiertischdecke, auf der Kinder in bunten Farben herumgekritzelt haben. „Der Blick von hier oben ist sicher etwas kompliziert zu verstehen“, sagt Aisenberg und deutet auf das Stück bunte Karte. Bereits in jungen Jahren entfloh die Jüdin Aisenberg dem latenten Antisemintismus der 1960er Jahre in Großbritannien, um in Israel eine neue Heimat zu finden. Sie hat das Land lieben gelernt, lebt in einem Kibbuz in der Nähe, ist Mutter von fünf Kindern und zehnfache Großmutter. Aisenberg arbeitet als Journalistin und Aktivistin für Givat Haviva, eine Nichtregierungsorganisation (NGO), die sich für den Dialog zwischen Israelis und Palästinensern einsetzt. Ganz besonders fasziniert sie bis heute aber ein Stück Land, das nun zu unseren Füßen liegt. „Seht ihr?“, beginnt sie erneut und erhebt den Finger deutend in Richtung Horizont „Dort hinten seht ihr eine große Moschee mit einer silbern glänzenden Kuppel – das ist Ost-Barta‘a, direkt gegenüber seht ihr ein Minarett, das ist West-Barta‘a. Und dort dazwischen verläuft die Grüne Linie.“

Die Geschichte des kleinen Ortes, der sich dort hinten an den Hang schmiegt, spiegelt wie kaum eine andere das schwierige Verhältnis zwischen der arabisch-stämmigen Bevölkerung in Israel und ihren palästinensischen Brüdern und Schwestern. Diese Geschichte der Spaltung Barta‘as beginnt 1949: Mit grüner Tinte zogen die Verantwortlichen die Grenze als Waffenstillstandsgrenze nach dem Unabhängigkeitskrieg Israels. Unterzeichnet wurde dieses Abkommen jedoch nicht an Ort und Stelle des Konflikts, sondern weit entfernt auf der griechischen Insel Rhodos. Hier saßen Generäle und Diplomaten aus Israel, Ägypten und dem ebenfalls noch recht jungen Königreich Jordanien und handelten aus, was bis heute weitgehend Bestand hat: Die Grenzen zweier Staaten verlegten sie ausgerechnet durch die Mitte eines kleinen Dorfes und teilten es mitten durch den Ortskern in zwei Gemeinden – eine gehört zu Israel, die andere zu den palästinensischen Gebieten. Bürger von West-Barta’a gehen auf Schulen des israelischen Staates, an den sie auch ihre Steuern zahlen. Bürger von Ost-Barta’a gehen in palästinesische Schulen und zahlen ihre Steuern an die palästinensischen Behörden. Wie konnte es dazu kommen?

Ein geteiltes Dorf

Keine Mauern, keine Zäune: lediglich ein einfacher Grenzstein markiert den Übertritt in den palästinensischen Teil der Stadt     Blick über Bart‘a: Am Fuße des Hügels beginnt West-Barta‘a, der palästinensische Teil der Stadt

Die Geschichte des kleinen Ortes, der sich dort hinten an den Hang schmiegt, spiegelt wie kaum eine andere das schwierige Verhältnis zwischen der arabisch-stämmigen Bevölkerung in Israel und ihren palästinensischen Brüdern und Schwestern. Diese Geschichte der Spaltung Barta‘as beginnt 1949: Mit grüner Tinte zogen die Verantwortlichen die Grenze als Waffenstillstandsgrenze nach dem Unabhängigkeitskrieg Israels. Unterzeichnet wurde dieses Abkommen jedoch nicht an Ort und Stelle des Konflikts, sondern weit entfernt auf der griechischen Insel Rhodos. Hier saßen Generäle und Diplomaten aus Israel, Ägypten und dem ebenfalls noch recht jungen Königreich Jordanien und handelten aus, was bis heute weitgehend Bestand hat: Die Grenzen zweier Staaten verlegten sie ausgerechnet durch die Mitte eines kleinen Dorfes und teilten es mitten durch den Ortskern in zwei Gemeinden – eine gehört zu Israel, die andere zu den palästinensischen Gebieten. Bürger von West-Barta’a gehen auf Schulen des israelischen Staates, an den sie auch ihre Steuern zahlen. Bürger von Ost-Barta’a gehen in palästinesische Schulen und zahlen ihre Steuern an die palästinensischen Behörden. Wie konnte es dazu kommen?

„Barta’a war damals ein kleines Städtchen“, erzählt Aisenberg. Nirgendwo erschien es auf Landkarten. Es gab nur ein paar hundert Familien: zu klein für den großen Blick fürs Ganze. Alles, was die Verantwortlichen sahen, war ein kleines Wadi, ein ausgetrockneter Fluss, der sich als natürliche Demarkationslinie anbot. „Was sie damals nicht bedacht hatten, war, dass hier Menschen lebten; ein ganzer Familien-Klan lebte auf beiden Seite des Flussbettes“, erklärt Aisenberg. Und so teilten die Repräsentanten nicht nur zwei Länder, sie teilten Brüder von Schwestern, Väter von Töchtern, Onkel von Neffen und Eltern von Großeltern. Aisenberg nennt es „das Dorf mit der gespaltenen Persönlichkeit“. 6.000 Kabhas(so ein häufiger Familienname) sind zurzeit offiziell Palästinenser, 4.000 nennen sich Israelis. Weißer oder blauer Pass, weißes oder gelbes Nummernschild. Ein Ort, an dem die Volten der Politik mit eiserner Härte Familienstränge gespalten haben. Es ist aber auch ein Leben in einer ständigen Identitätskrise und Ungewissheit.


Im Jahr 1967 veränderte der Sechs-Tage-Krieg die Situation erneut: In einem Präventivschlag rückte das israelische Militär in die Westbank ein. Seitdem gehört Ost-Barta’a zur sogenannten B-Zone des Westjordanlands, also zu einem Bereich, den die palästinensische Autonomiebehörde verwaltet. Staatsbürgern Israels ist die Einreise in eine B-Zone jedoch offiziell verboten. Für die seit 1949 getrennten Teile des Kabha-Klans bedeutete dies eine geradezu paradoxe Situation: Die gesamte arabische Welt betrauerte die militärische Niederlage und den Verlust großer Gebiete, ihr Dorf und ihre Familien aber waren nach 18 Jahren fast über Nacht wieder vereint worden.


Jedoch hatte die 18 Jahre strikte Trennung Spuren hinterlassen: Lebte die eine Hälfte des Dorfes im repressiven Jordanien, war die andere Hälfte israelische Staatsbürger geworden und hatte sich zumindest teilweise kulturell assimiliert. Anfang des neuen Jahrtausends brach die zweite Intifada aus und Israel baute den Sicherheitszaun. Eine stromgespeiste Linie aus Kameras und Sensoren. Die Absperrung verläuft, um nahe israelische Siedlungen zu schützen, nicht exakt entlang der Grenze. Also nicht mitten durchs Dorf, sondern knapp an Barta‘a vorbei. Seither fallen die angrenzenden Gebiete in die sogenannte C-Zone und befinden sich damit unter israelischer Militärherrschaft. Ost-Barta’a ist damit so etwas wie eine palästinensische Exklave. Selbst eigentlich autonom, jedoch umgeben von israelischer Besatzung und abgeschnitten vom Rest des Westjordanlands. Meist ignoriert von der israelischen Seite, hat sich der Ort zu einer Art Wildem Westen entwickelt. Barta‘a ist zum Marktplatz für alle arabischen Israelis aus dem Wadi Ara geworden. Geschäft reiht sich hier an Geschäft. Viele von ihnen werden von Palästinensern aus der Westbank betrieben. Doch schon der Weg ins nahe Jenin ist für viele eine Herausforderung. Was früher eine 20-minütige Fahrt mit dem Auto war, ist heute ein beschwerliche Reise durch eine Reihe von Checkpoints.

Mahmoud kennt das. Der schlaksige Mitvierziger mit der gegerbten Haut und der knochigen Stimme verarbeitet Marmor, den er teilweise über den Seeweg aus Italien bezieht. Er lebt in einem Dorf in der Westbank: „Ich besitze einen jordanischen Pass und einen palästinensischen Pass, aber darüber hinaus auch jede Menge anderer Papiere, um von meinem Zuhause in der Westbank hierherzukommen.“ Das liegt zwar ebenso in der Westbank aber in einer anderen Sicherheitszone und somit durch Zäune und Checkpoints in weiter Ferne. Auch Steuern zahle er sowohl an Israel als auch an die palästinensischen Autoritäten in Jenin. Sein Bruder hat eine Frau mit israelischer Staatsbürgerschaft geheiratet. Das sieht man hier häufig. Mahmoud hat sechs Töchter und einen Sohn, zwei der Töchter sind Doktorinnen. Aber Arbeit finden sie nicht in der Westbank. „Wie viele andere junge Menschen sind meine Töchter zur Universität gegangen und sind sehr gut qualifiziert. Aber sie können hier einfach keine Arbeit finden. Sogar in jordanischen Krankenhäusern nicht. Jetzt sitzen sie zu Hause rum“, erzählt Mahmoud und schiebt hinterher: „Alle Politiker hier stellen schon sicher, dass nur die Familie und die eigenen Leute gute Arbeit finden.“


Und doch: Im Vergleich zu anderen Orten in der Westbank haben die Palästinenser hier gute Aussichten. Das liegt am florierenden Handel und an den Gastarbeitern, die auf der Israelischen Seite arbeiten. Nach dem Krieg von 1967 setzte in Israel der Boom ein und bald wurden die einheimischen Arbeitskräfte knapp. Seitdem pendelten tagtäglich Zehntausende Palästinenser von den besetzten Gebieten ins israelische Kernland. Bald konnte man überall die „Araber” sehen: auf den Baustellen, in Restaurants, in Krankenhäusern und Geschäften. Und natürlich in den landwirtschaftlichen Betrieben wie den Kibbutzim. Auch die Wohnanlagen, die bald nach 1967 in den Gebieten für die jüdischen Siedler errichtet wurden, erbauten oftmals palästinensische Arbeiter. Sie halfen also selbst

mit bei der Einrichtung der Siedlungskomplexe, die sie heute so hassen und so erbittert bekämpfen.


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